Nadelstichverletzungen – sowie alle perkutanen Verletzungen, bei denen eine Person mit verunreinigtem Blut oder Körperflüssigkeiten in Kontakt kommen kann – sind seit langem ein Grund zur Sorge sowohl für medizinisches Personal als auch für die breite Öffentlichkeit.
Viele dieser Ängste werden durch Medienberichte genährt, die entweder das Risiko einer HIV-Infektion durch Nadelstichverletzungen übertreiben oder Fälle ins Rampenlicht rücken, in denen Opfer angeblich „in Angst leben“, nachdem sie einer solchen Infektion ausgesetzt waren (darunter ein vielbeachteter Vorfall aus dem Jahr 2013, bei dem eine Frau aus Michigan Etihad Airways verklagte, nachdem sie sich an einer weggeworfenen Injektionsnadel in einer Sitzlehnentasche gestochen hatte)
Während bei Nadelstichverletzungen
das Risiko als hoch wahrgenommen wird , deuten aktuelle Analysen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) darauf hin, dass das tatsächliche Risiko weitaus geringer sein könnte – so gering, dass es mittlerweile als selten angesehen werden kann.
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Infragestellung der „Drei aus Tausend“-Schätzung
In einer vielzitierten Studie aus dem Jahr 1989 schätzten Forscher, dass das Risiko, sich durch eine einzelne Nadelstichverletzung mit HIV-kontaminiertem Blut mit HIV zu infizieren, bei etwa 0,32 Prozent liegt, also bei etwa drei Fällen pro 1.000
Diese Zahl ist im Bewusstsein der Gesundheitsbehörden weitgehend haften geblieben, obwohl es zunehmend Hinweise dafür gibt, dass sich die Schätzung „drei von tausend“ eher auf unbehandelte Patienten im Spätstadium symptomatischer Erkrankungen bezieht – was 1989 das wahrscheinlichere Szenario war – als auf Schätzungen, die sich ausschließlich auf Nadelstichverletzungen stützen.
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2006 bestätigte diese Zweifel weitgehend. Bei der Überprüfung von 21 verschiedenen Studien stellten die Forscher fest, dass die zusammengefassten Schätzungen darauf hindeuteten, dass das Risiko einer HIV-Infektion eher bei 0,13 Prozent lag, wenn die Nadelstichverletzung der einzige Risikofaktor war. Nur wenn der betreffende Patient eine AIDS-Diagnose hatte – d. h. eine CD4-Zahl unter 200 Zellen/ml und/oder eine AIDS-definierende Krankheit – stieg die Schätzung auf 0,37 Prozent.
Wichtiger ist vielleicht, dass 13 der untersuchten 21 Studien zu dem Schluss kamen, dass das tatsächliche Risiko 0 % beträgt. Solche Unterschiede in der Forschung haben die ohnehin schon umstrittene Frage des HIV-Risikos in Einrichtungen der Arbeitsmedizin nur noch verstärkt.
CDC untersucht bestätigte und vermutete Fälle
In der Ausgabe des Morbidity and Mortality Weekly vom 9. Januar 2015 identifizierten Beamte der CDC 58 bestätigte und 150 mögliche Fälle von beruflich erworbenem HIV zwischen den Jahren 1985 und
Als bestätigte Fälle gelten Fälle, bei denen der Gesundheitsdienstleister HIV-negativ und der Ursprungspatient HIV-positiv ist. Als mögliche Fälle gelten dagegen Fälle, bei denen der HIV-Status des Ursprungspatienten unbekannt ist oder keine dokumentierte Verbindung zwischen dem Gesundheitsdienstleister und dem Ursprungspatienten festgestellt werden kann.
Von den 58 bestätigten Fällen ereigneten sich alle bis auf vier zwischen den Jahren 1985 und 1995, also kurz vor der Einführung der antiretroviralen Therapie (ART) und der Veröffentlichung der ersten US-Richtlinien für die Anwendung einer Postexpositionsprophylaxe (PEP) bei versehentlichem Kontakt mit HIV.
Seit 1999 wurde dem CDC nur ein einziger bestätigter Fall einer berufsbedingten HIV-Infektion gemeldet. (In diesem Fall ging es um einen Laborforscher, der 2008 mit einer lebenden HIV-Kultur arbeitete.)
Der Bericht der CDC schmälert zwar keineswegs die Bedeutung der PEP bei Nadelstichverletzungen oder anderen perkutanen Verletzungen, legt aber doch nahe, dass – in den Worten der Forscher – eine “umfassendere und frühere Behandlung zur Reduzierung der Viruslast der Patienten ” zu einer fast völligen Verringerung des HIV-Risikos bei beruflicher Exposition beigetragen hat.